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Baltikum

Die baltischen Länder durchqueren wir auf der Flucht vor der Kälte ziemlich zügig.
Nach unserem Stadtrundgang in Tallinn haben wir es doch noch einmal auf eine Wanderung im Soomaa-Nationalpark abgesehen. Kilometerlange, mit Wildnisshütten gespickte Wanderwege findet man hier allerdings nicht, so werden eher zwei längere Spaziergänge daraus. Im Allgemeinen kann uns die Landschaft nicht so sehr aus der Reserve locken – die Lofoten und Lappland sind schwer zu toppen. Wir stoßen jedoch auf eine Art Hochmoor, das ganz plötzlich hinter einem Waldrand auftaucht und uns in eine irgendwie entrückte Stimmung eintauchen läßt, und Hannes in einen eisigen Tümpel. Außerdem gibt es hier eine Art fünfte Jahreszeit. Nach dem Winter wird die gesamte Gegend überflutet, die Wanderwege werden dann mit dem Einbaum befahren. Die höchsten Wasserstände der letzten Jahre sind an Bäumen markiert worden. Wir staunen nicht schlecht.
Am Nachthimmel machen wir auch eine neue Entdeckung. Der ist hier fernab von großen Städten natürlich tausendmal schöner als in Rostock. Da leuchtet was ziemlich hell, ein Stern ist es nicht. Wird entweder Mars oder Venus sein, denken wir. Aber die Internetrecherche (ja, wlan mitten im Nationalpark dank der nahen Touri-Info) ergibt, dass der Jupiter mit bloßem Auge zu sehen sein soll! Wir kramen Lasses Fernglas hervor und tatsächlich: Jupiter mit seinen vier Monden in klassischer Konstellation, einer links, die anderen drei rechts vom Planeten. Total cool!

Neuierig gemacht hat uns eine Empfehlung aus dem Internet, im Südosten Estlands Fledermaushöhlen zu besichtigen. Diese Höhlen sind eigentlich das Ergebnis von jahrzehntelangem unterirdischen Sandsteinabbau zur Glasherstellung. Die Sowjets haben ab den Sechzigern den Tagebau angeordnet, weil sie die Hügel der Region nicht für erhaltenswert hielten, und damit ein riesen Loch in die Landschaft gerissen. In die stillgelegten Höhlen sind jedoch Fledermäuse eingezogen, das heißt, sie kommen jedes Jahr im Oktober zum Winterschlaf hierher. Die Jungs sind also sehr gespannt und voll auf eine Höhlenexkursion eingestellt. Leider ist vor einigen Jahren einem finnischen Touristen reichlich Sand von der Höhlendecke auf den Kopf gekracht (Invalidisierung), was zur Folge hatte, dass nun niemand mehr die Höhlen weiter als die ersten drei Meter betreten darf. Geschützt sind sie wegen der seltenen Fledermausbesiedlung dennoch.

 

In Riga wollen wir uns vor allem die Altstadt angucken. Es reicht dann aber nur noch zu einer „Nachtwanderung“, weil wir den ganzen Nachmittag auf dem Zentralmarkt verbringen. Der wird nahezu vollständig von Russen beherrscht und es gibt eigentlich alles zu kaufen von frischen Eiern und Gemüse über Teekessel und Strumpfhosen bis hin zu Dörrfisch, Kaviar und halben Schweineköpfen (kein Witz). Die Jungs sind fasziniert von den Auslagen und auch uns schlägt die Atmosphäre in ihren Bann. Dicke Frauen rufen sich über ihre Marktstände hinweg Neuigkeiten zu, manche deuten zaghaft auf uns, Henni wird übers Haar gestreichelt, Großmütterchen mit Kopftuch schlurfen vorbei, hin und wieder guckt einer böse, weil Hannes heimlich fotografiert (ist aus irgendeinem Grund hier verboten). Ein Typ, der eine schräge Komposition aus militärischen Orden, kleinen Keramikfiguren, alten Geldscheinen und Hitler- und Stalin-Büsten verkauft, meckert rum, wir sollen kaufen, nicht fotografieren. Das machen wir dann auch: Granatäpfel aus Aserbaidschan, Apfelsinen, Pilze, Nüsse, türkischen Nougat, Pfeffernüsse, Räucherfisch, frisches Hühnerfleisch, Brot und 18 frisch gebackene Donuts (Stückpreis umgerechnet etwa 13 Cent) von einer Frau, die die Jungs alle sehr hübsch findet, aber ob wir nicht doch noch ein Mädchen versuchen wollen? Dazwischen ich mit meinem schändlich rudimentären Russisch.

 

Von Riga einmal abgesehen wirkt Lettland ganz im Gegensatz zum westlichen Estland schon noch etwas „russisch“. Häufig fahren wir an Plattenbausiedlungen vorbei, die Erinnerungen wach rufen, wie es bei uns mal ausgesehen hat, bröckelnde graue Fassaden. Die Krone sozialistischer Innenarchitektur verleihen wir dann einem sowjetischen Bunker etwa eine Auto-Stunde östlich der lettischen Hauptstadt. Unter einer Reha-Klinik haben die Sowjets sich hier während des kalten Krieges unter fünf Meter dickem Beton für den Fall eines nuklearen Angriffs eine Art Zentrale für die wichtigsten 250 Männer erbaut. Bis 2003(!) war das hier top secret. Führungen sind heute leider nur auf Lettisch und Russisch, aber wir haben Glück: ein junge Lettin spricht uns an. Sie übersetze sowieso für ihren englischen Freund, wir können uns anschließen. Als wir die Treppe zum Bunker hinuntersteigen, schlägt uns schon modriger Geruch entgegen, dann präsentiert sich ein Labyrinth aus kalten Gängen mit dicken Stahltüren in angemessenen Abständen. Etliche Räume sind mit Kommunikationstechnik ausgestattet. An Telefonen mangelt es nicht – die Jungs sind begeistert von den Wählscheiben, kennen sie natürlich nicht. Die 250 VIPs hätten hier im Ernstfall drei Monate ohne Hilfe von außen überleben sollen. Der Generator, der extra für uns einmal mit ohrenbetäubendem Getöse angeworfen wird, verbraucht 10 Liter Diesel in 15 Minuten. Unser Führer lacht auf und meint, man hätte Treibstoff für maximal 2 Wochen hier lagern können, und auch sonst läßt er keine Gelegenheit aus, sich über die Russen lustig zu machen. Wir fragen uns, ob die russische Führung wohl ein bißchen anders verläuft. Den Abschluss bildet ein kleiner Imbiss im Essenraum, Tschai und Pelmeni an mit Wachstischtüchern und roten Plastiknelken verschönerten Tischen. Außer uns und dem Engländer schaut niemand wirklich belustigt drein.
Im Nachbarort entdecken wir merkwürdige Höhlen, die offensichtlich von Menschenhand in den Fels geschlagen worden sind. Viele offen und leer, einige aber mit Holztüren verschlossen. Wir erkunden ein paar der Gänge und treffen auf einen Mann, der ein paar Brocken Englisch spricht. Die Höhlen sind Lagerräume für die Vorräte der Anwohner, haben das ganze Jahr über eine Temperatur von etwa 5°C. Er präsentiert stolz Kartoffeln und rote Beete vom Vorjahr.

 

Daß man die Grenze zu Litauen passiert hat, merkt man vor allem an der aggressiven Fahrweise der Autofahrer. Dichtes Auffahren und gefährliche Überholmanöver sind an der Tagesordnung. Die einzigen die ordentlich fahren sind wir, deshalb sind wir ganz entspannt, als uns eine Polizeistreife rauswinkt. Routinemäßige Kontrolle der Fahrzeugpapiere. Dann: „Ich sehe keine Vignette an der Frontscheibe.“ Wir tauschen einen Blick aus. Sch…., da ist uns wohl was entgangen. Auf die Idee, daß man für das Befahren solcher Straßen noch Geld verlangen könnte, sind wir gar nicht gekommen. Doch es gibt hier eine LKW-Maut. Die Strafe beträgt umgerechnet 600 Euro. Im ersten Moment hoffen wir noch auf einen Übersetzungsfehler, aber nein, der Polizist zeigt es Hannes auf einem offiziellen Papier. Ich bleibe sitzen, muss erst mal schlucken. Das entspricht ungefähr unseren Kosten für einen Monat Essen! Hannes steigt aus, redet zwei Minuten. Dann steigt der Polizist in den Streifenwagen, sein Partner hält angestrengt mit einem Fernglas nach anderen LKW Ausschau, und Hannes kommt zurück. „Haben wir noch 50 Euro in Bar?“ Ich ahne es schon. Wir kratzen 30 Euro in Scheinen zusammen. Zwanzig weitere in Kleingeld werden von dem Beamten abgelehnt. Er schaut Hannes nicht mehr in die Augen. Wir werfen den Motor an. Nix wie weg! An der nächsten Tanke kaufen wir eine Vignette für heute und steuern dann die polnische Grenze an.
Eine Sehenswürdigkeit auf dem Weg wollen wir uns jedoch nicht entgehen lassen: Den Hügel der Kreuze. Nahe der Stadt Siauliai schauen wir uns dieses Symbol für den Stolz und den Freiheitsglauben der Litauer an. Unzählige Kreuze (wir glauben, es müssen Millionen sein) sind hier aus religiösen Gründen, oder um jemandem zu gedenken errichtet worden. Der Ort bedeutet den Litauern viel und ist den sowjetischen Besatzern folglich ein Dorn im Auge gewesen. Sie haben etliche Male alles mit Bulldozern eingerissen, um festzustellen, dass die Anwohner trotz aller Gefahr hinterher alles in Nacht-und-Nebel-Aktionen wieder aufgestellt haben. Wir sind ziemlich beeindruckt von diesem Ort. Die einsetzende Dämmerung paßt natürlich gut dazu, und da ein leichter Wind weht, klimpern die vielen Metallkreuze, die an größeren aufgehängt worden sind, wie Tausende kleiner Windspiele über den Hügel.
Kurz vor der polnischen Grenze verabschiedet sich das Land noch mit einem Feuerwerk der litauischen Fahrkunst. Ein Elefantenrennen der Extraklasse. Einige LKW – ich weiß nicht, sind es sechs oder acht – finden offensichtlich Gefallen daran, sich auf dieser für hiesige Verhältnisse sicher recht guten aber leider einspurigen Straße trotz ständigen Gegenverkehrs gegenseitig zu überholen. Und das nicht etwa einer hübsch nach dem anderen, sondern immer gleich zwei plus etliche zusätzliche PKW und ein Krankenwagen, der sich ebenfalls munter ins Getümmel stürzt. Wir und die entgegenkommenden Autos fahren quasi durchgehend auf dem etwa 1 Meter breiten Seitenstreifen. Ich klammere mich an den Sitz, die Füße gegen das Handschuhfach gestemmt und rufe mal mit schreckensweiten, mal mit zugekniffenen Augen „Bremsen, Hannes, bremsen!“ oder „Da kommen doch Autos!“. Hannes – Mr. Cool himself – hält konzentriert Abstand zum Vordermann, immer genau so viel, dass sich ein Laster und ein bis zwei PKW im Bedarfsfall noch gerade reinquetschen können und sagt: „Schade, daß die Jungs schon schlafen. Hätten sie sich bestimmt gern mit angeguckt.“

In Polen angekommen denken wir uns, diesmal sind wir schlauer. Die Zollbeamtin, die uns rauswinkt und einen flüchtigen Blick hinten rein wirft, sagt zwar nichts von einer Maut, aber wir halten schon 3 Kilometer hinter der Grenze auf einem LKW-Rastplatz (es ist kurz vor Mitternacht) und fragen am nächsten Morgen in der Trucker-Bar nach. Die Dame versteht kein Wort Englisch und zuckt nur mit den Schultern. Dieses Verhalten kennen wir schon, auch von früheren Polen-Reisen. Man versteht nichts, will auch nichts verstehen, und wendet sich einfach ab. Aber ein Lasterfahrer sagt, Vignette ja, nix hier, nächste Tankstelle.
Aha, wir fahren in den nächsten Ort an die Tanke. Der Tankwart hat von einer Maut in Polen noch nie was gehört. Auch nicht für große Autos? LKW? – Nein, echt nicht. – 100% sicher? – Kopfwackeln. Na, ob das verläßlich ist? Erstmal Großeinkauf im Supermarkt, als wir wieder rauskommen entdeckt Hannes gegenüber einen Streifenwagen. Die Frage nach der Maut verneint auch der Polizist. Hannes fragt nach, ob er sicher sei. Ist er anscheinend nicht, denn er greift zum Telefon und fragt selbst nach. Lustig. Ja, doch, LKW-Maut auf den Schnellstraßen, auf kleineren nicht. Vignette kann nur an der Grenze gekauft werden. Aha. Wir überlegen, ob wir zur Grenze zurückfahren und das Ding kaufen oder mithilfe einer Karte nur die Nebenstraßen benutzen. Allerdings wird die Zeit etwas knapp, wir wollen in einer Woche bei Coco und Jan in München sein. Nach Erwerb und Studium einer Straßenkarte für Europa (Maßstab: 10 cm entsprechen 20 km – da stimmt doch auch wieder was nicht) entscheiden wir uns für die Rückfahrt zur Grenze.
Dort läuft Hannes an den entsprechenden Schalter. Es ist halb sieben. Kurze Nachfrage, aber Englisch, Deutsch oder Zeichensprache kann die Dame alles nicht. Das übliche Schulterzucken und Abwehren. Hannes bekommt ein polnisch/russisches Infoblatt in die Hand gedrückt. Als der Mann vor ihm fertig ist, wird der Schalter zugemacht – jetzt 18.45 Uhr, Schließzeit eigentlich 19 Uhr, aber bei dem Arbeitstempo hätte sie es vielleicht nicht pünktlich raus geschafft.
Draußen fragt Hannes einen Zollbeamten, der wiederum sagt, die Maut sei auf allen Straßen Pflicht. Wir übernachten direkt vor dem Schaltergebäude. Ich versuche was aus dem Prospekt herauszufinden, aber mein Russisch reicht ja nur zum Granatapfel-Kaufen, und mache letztendlich einen Hilfszettel mit ein paar Wörtern aus dem Polnisch-Wörterbuch, unseren Fahrzeugdaten und der geplanten Route durch Polen. Den nehmen wir am nächsten Morgen mit zum Schalter. Vor uns stehen vier, was nach gestriger Erfahrung einer Wartezeit von einer Stunde entspricht. Wir schauen uns um. In der Halle befinden sich neben dem Vignetten-Schalter noch vier weitere Geldwechsel-Schalter. An jedem sitzt eine perfekt gestylte Dame. Eine hält eine Kaffeetasse in der Hand, eine geht ständig irgendwohin raus oder ihre Kolleginnen besuchen, die anderen beiden starren Löcher in die Luft oder auf den laufenden Fernseher in ihrem Kabuff. Englisch kann von ihnen keine, schulternzucken können sie alle. Außerdem beobachten wir während der tatsächlich einstündigen Wartezeit (die arbeiten hier wirklich wie ein Uhrwerk) eine dreiköpfige Putzkolonne beim Wischen des Bodens: Ein Mann wischt, die eine Frau stützt sich auf ihren Mob, die andere holt regelmäßig frisches Wasser. Nebenbei wollen ganze drei Kunden Geld tauschen. Dann sind wir dran, legen den Hilfszettel auf den Thresen und tatsächlich, der Herr hinter dem Schalter gibt sich Mühe uns zu verstehen, und wir bekommen zusätzlich Hilfe von dem Lasterfahrer hinter uns. Er findet „familia super“, hat selbst vier Söhne und kann ein paar Brocken Deutsch. Wir bekommen also eine elektronische Plakette (ähnlich der in Österreich verwendeten), zahlen nach gefahrenen Kilometern und müssen das Ding jetzt nach dem prepaid-Prinzip aufladen und an der tschechischen Grenze wieder abgeben. Pfand gibt`s auch noch. So, 240 Zloty bitte. Wir halten ihm die Karte hin, an der Scheibe befindet sich ein Aufkleber, der die Nutzung von Visa, Maestro und Co. verspricht. Der Mann schüttelt mit dem Kopf. Das Kartenlesegerät ist kaputt, es geht nur in bar. Wir haben natürlich keinen einzigen Zloty auf der Tasche. Also zurück zum nächsten Ort, Geldautomat suchen, Zloty abheben, zurück zur Grenze, bezahlen, und endlich können wir das Maut-Gerät vorschriftsmäßig installieren.

Auf der Suche nach einem Stellplatz für die Nacht fahren wir einen kleinen Feldweg entlang, der von der Straße abzweigt. Schönes Wetter, um uns Wiesen und Felder, ein paar Kühe grasen dichtbei. Hannes steigt kurz aus, geht das Gelände ab. Fühlt sich fest an. Wir wollen noch hinter die nächste Baumreihe fahren, wo Sonne ist. Da passiert`s, der Laster hält, die Räder drehen durch, Allrad ist schon drin. Rückwärtsgang … kein Erfolg. Wir steigen aus. Sieht nicht so schlimm aus. Hannes schiebt dicke Äste unter die Räder, damit wir mehr Grip bekommen. Der Versuch scheitert. Ich suche inzwischen den Spaten. Wo haben wir das Ding denn nur wieder hingemölt? In der kleinen Hütte kann man doch nichts verlegen – wir natürlich doch. Hannes gräbt mit den Händen die Räder frei. Noch ein Versuch, zurück… vor… zurück. Keine Chance, das Differential liegt hinten schon auf dem Boden auf. In ein paar Hundert Metern Entfernung arbeiten zwei Träcker. Der erste versteht nichts, schickt Hannes zum anderen. Der versteht auch nichts, aber jemand ruft einen Mann herbei. Wir haben mal wieder Glück. Der junge Pole hat ein paar Jahre in den USA gearbeitet, spricht fließend Englisch und ist total gut drauf. Die Jungs können`s gar nicht fassen, als Papa im Träcker wieder angefahren kommt. Ziemlich cooler Auftritt. Uns rauszuziehen ist für die Maschine ein Klacks, ich kann kaum Fotos machen. Ob sie ein bißchen was haben wollen für die Aktion? Der Typ wehrt ab. „Ich helf dir heute, du morgen einem anderen, irgendwann einer mir. So ist jedem geholfen.“ Die zwei sind so schnell wieder weg, wir kennen nicht einmal einen Namen. Vielen Dank! Am nächsten Morgen fährt sich 200 Meter weiter ein Träcker fest – es war also wirklich unvorhersehbar matschig.