Wir fahren weiter nach Süden, wollen eigentlich nach Fèz. Dann erreicht uns eine SMS von Franz. An der Küste ist es deutlich wärmer, sie peilen einen Strandplatz in der Nähe von Rabat an. Wir planen kurzerhand um, drehen nach Westen ab und lassen Fèz für den Rückweg übrig.
In unsere Richtung führen sowohl eine Art Bundesstraße als auch eine kleinere, schlechter ausgebaute Straße, für die wir uns entscheiden, weil sie durch landschaftlich schöneres Gebiet führen soll. Nach einer halben Stunde erwägen wir schon umzukehren. Die Straße ist eigentlich eine Sandpiste, total zerfahren, an den Seiten unbefestigt. Spitzengeschwindigkeit 30 km/h, Durchschnitt eher 15 km/h. Wollen wir so weitere 60 Kilometer fahren? DOch was man bei schnellerer Fahrt wohl nicht erkannt hätte: die Gesichter der Menschen sind neugierig und freundlich. Touristen scheinbar selten. Die Leute winken uns von den Feldern zu. Alte Männer auf ihren Eseln grinsen zahnlos zum Fenster rein. Kinder treiben kleine Ziegenherden über die Straße. Einer deutet uns in Zeichensprache, dass wir auf einem kleinen Abzweig von der Straße mit Ausblick auf ein kleines Dorf die Nacht verbringen können. Am nächsten Morgen bringt uns ein anderer eine unserer Isomatten. Sie war unbemerkt den Hügel runtergeweht. Kurz darauf erscheinen ein paar neugierige Jungs. Wir haben gelesen, dass die Kinder manchmal Geschenke von Touristen erhalten und dann von den nachfolgenden gleiches erwarten. Und wie sollen wir es ihnen übel nehmen. Die Behausungen, an denen wir vorüberfahren, sind nackte Stein- oder Lehmwände mit Dächern aus Wellblech. Die Frauen schleppen riesige Feuerholzbündel auf ihren Rücken und ziehen mit Eimern Wasser aus steinernen Brunnen. Und überall gegenwärtig: Plastikmüll, Plastikmüll, Plastikmüll! Inmitten einer wunderschönen Landschaft aus grünen Hügeln, knorrigen Bäumen und idyllischen Dörfchen unter strahlend blauem Himmel wird uns klar, dass Marokko noch immer ein Dritte-Welt-Land ist. „Bonbon? Bonbon?“ fragen die Kinder. Haben wir gerade selbst nicht – und wenn, haben die denn `ne Zahnbürste? Doch unsere Jungs holen das Longboard raus und jeder darf ein paar Runden darauf drehen. Die anderen sind erst skeptisch, dann begeistert. Als wir weiterfahren wollen, bieten sie uns zum Tausch gegen das Longboard ihren total abgewetzten Fußball. (Den Handel lehnen wir dann doch ab.)
Für unseren Zwischenstopp in Meknes hatten wir wieder eine Stadtbesichtigung geplant. Allerdings haben wir Probleme, die Medina oder den dazugehörenden Parkplatz zu finden. Es ist schon dunkel, als wir einen Anwohner nach dem Weg fragen. Da gesellen sich zwei junge Männer hinzu und bieten ihre Hilfe an. Der eine, Andrea, ist Italiener und hilft seinen marokkanischen Freunden gerade dabei, ein italienisches Restaurant in Meknes aufzubauen. Der andere heißt Brahim und hat mit seiner Familie 15 Jahre in Italien gelebt. Sie besitzen ein großes Stadthaus in der Nähe und schlagen vor, die Nacht lieber dort zu verbringen und am nächsten Tag in die Medina aufzubrechen. Dort lernen wir Brahims Bruder Mustafa kennen. Der trägt zwar das traditionelle Berbergewand (in edler Ausführung), spricht aber neben Arabisch und Italienisch noch fließend Französisch und ein bißchen Englisch. Und er hat in seinem modern-orientalisch eingerichteten Stadthaus einen fetten Flatscreen-Fernseher und auf jeder der insgesamt drei Etagen zwei Badezimmer, ein europäisches und ein arabisches (Sitztoilette versus Hocktoilette) – so kann der Gast frei entscheiden, welches ihm eher zusagt. Er bietet uns mehrfach an, im Haus zu übernachten, Dusche oder Waschmaschine zu nutzen, was zu zweit ziemlich genial gewesen wäre, doch die Kinder wollen lieber in der Feuerwehr bleiben. So landen wir an diesem Abend mit Andrea, Brahim und Mustafa bei gemütlichem Tee und Schwätzchen in unserer komfortablen Fahrerkabine. Und im krassen Gegensatz zu den ärmlichen Dörfern erleben wir hier die wohlhabende und gebildete (nach ihrer Angabe) obere Mittelschicht Marokkos.
Am nächsten Tag gesellen sich dann schnell eine Menge Jungs zu uns. Die sind hier deutlich spürbar an Fremde gewöhnt, begrüßen mich gleich ganz locker mit „Bonjour, madame!“ und sind mitunter ganz schön frech. Hannes muß nach stundenlanger Toberei mit unseren Skateboards und dem Longboard richtig ernst werden, bis sie alle wieder von Dannen ziehen. Was uns hier wieder richtig bewußt wird: nie gesellen sich Mädchen zu den Neugierigen hinzu. Zwischendurch biegt mal eines um die Ecke und bleibt ein paar Meter entfernt stehen. Da springt sofort einer der Jungen hin (der Bruder?) und verscheucht sie. Die Straßencafès sind immer zu hundert Prozent mit Männern besetzt, die Frauen gehen eilig vorbei. Auf dem Lande ist der Eindruck der gleiche: in der Regel sitzen die Männer dösend im Gras und passen auf die Viecher auf während die Frauen die körperlich schwere Arbeit verrichten. Eigentlich entspricht das den Erwartungen an eine muslimische Gesellschaft, dennoch ist es schon gewöhnungsbedürftig zu erleben, wie die Geschlechter hier scheinbar in zwei Parallelwelten existieren.